Verkehr
Radentscheid starten
Unsere Städte versinken im Blech und ersticken in Abgasen. Die Straßen gehören den Autos, als sei das ein Naturrecht. Doch nun rollt eine Verkehrswende von unten durch das Land – auf Fahrrädern. Mit einem Radentscheid können wir Vorfahrt für Fahrräder erkämpfen.
Es gibt Städte, da werden Radfahrende von der Politik wie vollwertige Verkehrsteilnehmer:innen behandelt. In Kopenhagen fahren sie auf „Greenways“ und gut ausgebauten Radschnellwegen zur Arbeit. Im Winter werden die Radwege gleich als erstes geräumt, vor den Straßen für Autos. Verkehrspolitische Entscheidungen wie diese nehmen den Schutz der Radfahrer:innen ernst und verbessern zugleich die Lebensqualität in den Städten. Immer mehr europäische Metropolen schieben die Mobilitätswende an: Paris, Wien, Barcelona, Madrid, London und viele andere verteilen den öffentlichen Raum neu, um der muskelgetriebenen Fortbewegung Platz zu verschaffen. Die Feinstaub- und Stickoxidwerte sinken dort, während sie in deutschen Städten standardmäßig gesetzeswidrige Höhen erreichen.
Kein Wunder. Hierzulande sind Fahrradwege in den meisten Fällen schmale, an Parkplatzreihen geklebte Schutzstreifchen, die nur von überzeugten Radfahrer:innen genutzt werden. Kinder, ältere Menschen und Ungeübte steigen kaum aufs Rad. In Berlin beispielsweise gehören den Autos 60 Prozent der Straße. Radfahrer:innen müssen sich mit drei Prozent begnügen. Die Initiator:innen des „Volksentscheid Fahrrad“ wollten das nicht hinnehmen und starteten ein Volksbegehren – mit Erfolg: In Berlin gilt nun Deutschlands erstes Radverkehrs- und Mobilitätsgesetz. Seitdem ziehen immer mehr Bürgerinitiativen nach und starten Fahrrad-Bürgerbegehren, sogenannte Radentscheide, die sich an den Zielen des Berliner Volksentscheids orientieren. Er ist damit zur Blaupause für die Mobilitätswende von unten geworden.
„Jede Stadt muss ihre eigenen Lösungen finden, aber 50 Prozent Radverkehrsanteil sind überall möglich.“
Die Bewegung rollt – mehr Rechte für Radler:innen
Radentscheide lassen sich in jeder Kommune durchführen. Wir profitieren dabei von den Erfahrungen der Städte, die bereits mit gutem Beispiel vorausgeradelt sind. Etabliert hat sich ein Modell, in dem die Kommune aufgefordert wird, verschiedene verkehrspolitische Ziele umzusetzen, die unter der Abstimmungsfrage aufgelistet sind:
Sind Sie dafür, dass die nachfolgenden zehn Ziele (in den nächsten…Jahren) verkehrspolitisch vorrangig verfolgt werden?
Eine erste Orientierung über mögliche Ziele bietet der „Radentscheid-Baukasten“ am Ende dieses Kapitels.
Zunächst sollten wir die Situation vor Ort analysieren. In Gesprächen mit Umweltschützer:innen, den ADFC- und VCD-Ortsgruppen, Kommunalpolitiker:innen oder Radfahrer:innen aus unserem Umfeld machen wir uns ein Bild davon, wo akuter Handlungsbedarf besteht. Mit den „Empfehlungen für Radverkehrsanlagen“ (ERA) können wir uns schon mal ein wenig verkehrsplanerisches Fachwissen anlesen. Wenn wir von Beginn an Vertreter:innen der kommunalen Verwaltung mit ihrer Expertise und ihren Vorstellungen einbeziehen, erhöht das die Chance, dass nach einem erfolgreichen Radentscheid dessen Umsetzung reibungslos verläuft. Das funktioniert aber natürlich nur, wenn sie unseren Ideen gegenüber aufgeschlossen sind.
Um unsere Abstimmungsfrage und Ziele zu formulieren, sollte sich eine Arbeitsgruppe im Bündnis möglichst einige Wochen bis Monate Zeit nehmen. Für einen Erfahrungsaustausch und um Anregungen für die eigenen Forderungen zu erhalten, empfiehlt es sich, mit den Aktiven anderer Radentscheide zu sprechen. Kontakt zu ihnen und zu weiteren Beratungsangeboten bekommen wir auf auf den Projektseiten in der „Mitmachen“-Rubrik.
Entscheidend ist, dass die Ziele in den Wirkungskreis der Kommunen fallen. Maßnahmen, die das Straßenverkehrsrecht regelt, sind nicht zulässig. In der Begründung des Bürgerbegehrens können wir klarstellen, dass keine der Maßnahmen zu Lasten des öffentlichen Nahverkehrs oder von Fußgängern gehen soll, sondern dass der überproportional vom Autoverkehr beanspruchte öffentliche Raum zugunsten klimafreundlicher Mobilitätsformen neu geordnet werden muss.
Bewährt hat sich ein Katalog von fünf bis maximal zehn Zielen. So ist klar, dass es nicht nur um Einzelmaßnahmen geht, aber es wird auch nicht zu unübersichtlich für potenzielle Unterzeichner:innen. Es sollte deutlich werden, dass es sich um ein zusammenhängendes Konzept handelt. Wie weitreichend die geforderten Maßnahmen jeweils sein sollen, etwa hinsichtlich der Anzahl und Länge neu zu bauender Radwege, hängt davon ab, was wir für sachlich geboten und politisch möglich halten. Am besten verbinden wir unsere Forderungen mit Zeitvorgaben. So beugen wir einer Verzögerungstaktik des Stadt- oder Gemeinderats vor.
Ausgehend vom „Volksentscheid Fahrrad“ hat sich ein Portfolio an Argumentationsbausteinen und Aktionsformen entwickelt, das neue Radentscheid-Initiativen aufnehmen, weiterentwickeln und laufend verbessern, ungefähr so wie bei einer quelloffenen Software. Beispiele dafür finden wir auf den Websites der Initiativen.
Eine Synthese der gängigsten Ziele bietet der „Radentscheid-Baukasten“ weiter unten auf dieser Seite. Bei den Formulierungen der Forderungen handelt es sich um Entwürfe, die Ideen liefern sollen. Jede Initiative kann auf Grundlage der drängendsten Probleme in der eigenen Gemeinde Anpassungen vornehmen oder weitere Punkte entwickeln.
Einige Radentscheid-Initiativen, darunter Freiburg und München, haben parallel zu einem allgemeinen Fahrrad-Bürgerbegehren ein weiteres Begehren mit der Forderung nach einer konkret greifbaren Maßnahme – einem Innenstadtring – durchgeführt.
Radentscheid-Baukasten
Kernziele, die sich bei den meisten bisherigen Radentscheiden wiederfinden, sind die folgenden:
Lückenloses Netz aus Hauptradrouten
Die Verkehrsplanung verknüpft Knotenpunkte in der Stadt zu einem Netz aus Radwegen, die nicht mehr plötzlich in den Autoverkehr münden. Dieses Ziel kann Radschnellwege für den Pendler*innen-Verkehr auf den Hauptachsen einschließen oder ein zusammenhängendes Netz fahrradgerechter Schulwegrouten.
Sichere Radwege an Hauptstraßen
Straßen mit Regelgeschwindigkeit über 30 Kilometer pro Stunde erhalten breite, vom restlichen Verkehr baulich getrennte Fahrradwege, die auch für Kinder und Senior*innen mühelos befahrbar sind. Je nach Größe der Kommune reichen die Forderungen von zwei bis 30 Kilometern jährlichem Zubau.
Fahrradfreundliche Nebenstraßen
Die Kommune weist Fahrradstraßen aus, öffnet Einbahnstraßen für den Fahrradverkehr oder erklärt Straßen zu Sackgassen für den Autoverkehr. Hier bewegt sich die Zielgröße meist zwischen drei und 15 Kilometern Ausweisung pro Jahr.
Sichere Kreuzungen und Einmündungen
Die Kommune schützt Radfahrende durch bauliche Maßnahmen vor Abbiegeunfällen oder malt Radaufstellstreifen auf. Die meisten Radentscheide fordern zwischen drei und 30 Kreuzungen und Einmündungen pro Jahr, die sicherer werden sollen.
Mehr Fahrradparkplätze
Die Kommune baut Fahrrad-Parkhäuser mit sicheren Abstellvorrichtungen an Bahnhöfen und anderen zentralen Orten, außerdem ausreichend Fahrradbügel vor Schulen, Kultur- und Sporteinrichtungen. Die meisten Bürgerbegehren machen konkrete Zahlenvorgaben für den Zubau, pro Jahr oder bis zu einem Zieldatum.
Barriere- und hindernisfreie Rad- und Gehwege
Die Kommune senkt Bordsteinkanten an Kreuzungen und Einmündungen vollständig ab. Sie reinigt die Wege regelmäßig und räumt und streut sie bei Schnee und Glätte. Außerdem überprüft sie Rad- und Gehwege regelmäßig auf Mängel und Gefahrenstellen und beseitigt diese zeitnah. Dem Radverkehr gewidmete Wege müssen, Gehwege sollen frei von Hindernissen wie Pollern, Masten oder hineinragenden Schildern sein.
Radschnellwege
Gut ausgebaute Radschnellwege sorgen dafür, dass Pendler*innen schnell und sicher von A nach B kommen. Gependelt wird jedoch nicht nur innerhalb der Stadt, sondern auch von einer Gemeinde in die nächste. Die Gemeinde muss in diesem Fall mit den Umlandkommunen kooperieren, die dort Streckenabschnitte planen und finanzieren müssen. Genau dazu kann das Bürgerbegehren die Stadtvertretung auffordern: Auf die Nachbarkommunen mit dem Anliegen zuzugehen, gemeinsam solche Verbindungen für Pendler*innen einzurichten.
Sensibilisierung für mehr Radverkehr
Kampagnen und Programme informieren über die Vorteile des Fahrradfahrens und stärken die gegenseitige Akzeptanz und Rücksichtnahme zwischen den Verkehrsteilnehmer*innen.
Weitere mögliche Ziele:
- Schaffung einer speziellen Verwaltungseinheit für die Radverkehrsförderung
- Bereitstellung eines transparenten Online-Mängelregisters
- Jährlicher Bericht über den Umsetzungsstand des Radentscheids
- Aufbau eines günstigen oder kostenlosen E-Bike- oder Lastenrad-Verleihs
ENERGIE
- Stadtwerke zu Ökostromversorgern machen
- Wärmewende starten
- Die Sonne reinlassen
- Energieversorgung zurückerobern
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